Für die Anwohner gab es keine Warnung, als letzte Woche Donnerstag in wenigen hundert Metern Entfernung an der Sudstraße bei Campen (Lk. Diepholz) hochgiftiges Sauergas aus der Erdgasbohrung Siedenburg Z6c austrat. Vielleicht, weil der Wind aus West wehte und Campen nördlich der »Störfallstelle« liegt, vielleicht aber auch, weil die zuständige Bergaufsicht davon ausging, dass das giftige Gas schadlos über eine Fackel verbrannt wurde, waren die Zuständigen der Auffassung, den Anwohnern nichts von dem Vorfall mitteilen zu müssen.
Eine Campenerin, die durch meinen Anruf überhaupt erst von dem Vorfall erfuhr, bestätigte diese Vermutung: Nach faulen Eiern, dem typischen Geruch von Schwefelwasserstoff, der das Sauergas so gefährlich macht, habe es an dem Donnerstag nicht gerochen, während man anderen Tagen den Schwefel deutlich riechen könne, sagte sie.
Das Erdgas aus der Lagerstätte Siedenburg enthält 6,8 % Schwefelwasserstoff (H2S)[1] und gehört damit zu den hoch schwefelhaltigen Erdgasen.
Berezovka, Kasachstan: Ein ganzes Dorf aus Profitgier in Gefahr gebracht
Ganz so »sauer« wie in Siedenburg ist das Erdgas im Öl- und Gasfeld von Karachaganak (Nordwest-Kasachstan) nicht – es enthält »nur« ca. 3-4 % H2S[1]. Das Feld gehört zu den weltgrößten Gasfeldern und wird seit etwa der Jahrtausendwende von einem internationalen Konsortium KPO (Chevron, British Gas, ENI, Lukoil) betrieben. Hier werden derart große Mengen an Erdgas gefördert – und damit Schwefel -, dass der Schwefel den Betreibern nicht als Wert-, sondern Abfallstoff gilt.
ENI, einer der Konsortialpartner, hat daher eine Methode entwickelt, bei der der angeblich nicht verwertbare Schwefel mit einem Teil des gewonnenen Rohgases unter sehr hohem Druck zurück in den oberen Bereich der Lagerstätte gepresst wird.[3]
Ob es diese Entsorgungspraxis oder andere Fehlfunktionen der riesigen Förder- und Aufbereitungsanlagen in der kasachischen Landschaft sind, die das Atmen der Luft in dieser Gegend zum massiven Gesundheitsrisiko machen, ist nicht bekannt. Das Risiko an sich ist allerdings den Behörden nicht verborgen geblieben, weshalb sie rund um die Anlage eine sogenannte Sicherheitszone von ca. 5 km Radius einrichten ließen – die exakt bis an die Dorfgrenze von Berezovka heranreicht. Völlig unzureichend, sagen die Dorfbewohner, die im Fall eines Sauergas-Ausbruchs keine Chance hätten, sich schnell genug in Sicherheit zu bringen – »5 Kilometer Gleichgültigkeit«, wie es der Aktivist Sergey Solyanik sarkastisch zum Ausdruck brachte.
Im Dorf Berezovka sind fast alle Bewohner krank. Im November letzten Jahres kam es zu einem Zwischenfall, der die Gefahrensituation endlich auch international ruchbar machte:
Am 28. November 2014 wurden 19 Kinder und 3 Erwachsene in Berezovka durch eine unbekannte, toxische Substanz vergiftet. Sie wurden mit akuten Atembeschwerden und Krämpfen ohnmächtig und mussten im Krankenhaus behandelt werden. Nachdem sowohl das Betreiberkonsortium als auch die zuständigen staatlichen Stellen zunächst vehement bestritten hatten, dass die Gasproduktion schuld sein könnte – schließlich hätte keine der Monitoringanlagen ungewöhnliche Werte angezeigt -, gaben die behandelnden Ärzte schließlich zu, dass die Erkrankten ganz eindeutig einer toxischen Substanz ausgesetzt gewesen waren, wie die NGO crudeaccountability und internationale Medien berichteten.
25 gesundheitsgefährliche Substanzen in der Atemluft und andere Umweltschweinereien
In einer eigenen Luftmonitoring-Kampagne, die die Dorfbewohner 2004 durchführten, wurden über 25 gesundheitsgefährliche Substanzen in der Luft festgestellt, darunter Schwefelwasserstoff, Methylchlorid, Schwefelsäure, Toluol und Acrylonitril.
2005 entzog die regionale Umweltbehörde von Karachagank dem Konsortium kurzzeitig die Betriebserlaubnis, weil bekannt wurde, dass massive Umweltverschmutzungen stattgefunden hatten (unter anderem das Ablassen von 56.000 Tonnen toxischer Substanzen in die Atmosphäre, unzulässige Ablagerung von Giftmüll und Verpumpen von giftigen Abwässern in den nutzbaren Grundwasserleiter [4]
15 Jahre Kampf und internationaler Druck
Seit KPO um die Jahrtausendwende ihre riesige Fabrik in die nordwestkasachische Landschaft gebaut haben, forderten die Bewohner von Berezovka ihre Umsiedlung aus der Gefahrenzone. Bei Staat und Unternehmen, die in trauter Einigkeit die Gefahr stets leugneten, stießen sie auf taube Ohren.
2009 brachte crudeaccountability schockierende Details ans Licht: Das Dorf könnte innerhalb von Minuten von einer Giftgaswolke von Bhopalschem Ausmaß erreicht werden – Katastrophenschutz gleich Null. Eine Menschenrechtsverletzung, die unter anderem auf die Inaktivität der Weltbank geht, wie die NGO feststellte.
2011 rückte crudeaccountability das Bild ein wenig grade: Tatsächlich gab es in Berezovka eine gewisse Vorsorge gegen eine eventuelle Giftgaswolke: In einer Kammer mit einer schmalen Tür fanden sich 38 Kisten mit Gasmasken für Kinder. Die Bedienungsanleitung war auf 1981 datiert. Ob die Masken selbst genauso alt waren, war nicht ersichtlich.
Im April 2015 veröffentlichte crudeaccountability einen Dokumentarfilm über das Geschehen am 28. November 2014 in russischer und englischer Sprache – mit dem drastischen und treffenden Titel »Karachaganak: Kinder gegen Öl«.
Im Mai 2015 reiste Sergey Solyanik zur Menschenrechtskonferenz der NGO urgewald nach Deutschland, um auf die Situation in Berezovka, in Kasachstan aufmerksam zu machen. Er forderte Verantwortung von den weltweiten Geldgebern für Rohstoffprojekte wie Karachaganak: Der Konzern solle die betroffenen Menschen endlich umsiedeln.
Am 13. Juli 2015 dann die scheinbar erlösende Nachricht: Der stellvertretende Premierminister von Kasachstan, Berdibek Saparbaev, verkündet, das KPO für die Umsiedlung der Einwohner von Berezovka zahlen wird. Die Umsiedlung soll in anderthalb Jahren abgeschlossen sein und 1581 Menschen in Sicherheit bringen – vor Giftgas und vor Sinklöchern, die neuerdings immer häufiger auch mitten im Dorf auftreten.
Wer oder was die kasachische Regierung und/oder das Konsortium und seine internationalen Geldgeber, die sich alle zusammen an kasachischen Bodenschätzen dumm und dämlich verdienen, letztendlich dazu gebracht hat, nach über 15 Jahren ihre skrupellose Gefährdung von Menschenleben zu beenden – oder zumindest die Zusage zu machen, es demnächst zu tun -, ist nicht bekannt. Bekannt ist dagegen, dass deutsche Politiker keinen trockenen Furz darauf geben, ob die kasachische Obrigkeit Schluss macht mit den Menschenrechtsverletzungen im Land oder nicht. Schließlich geht ja schließlich um Wichtigeres, nämlich Rohstoffe.
Im Siedenburgischen sind solche Vorkommnisse wie in Berezovka natürlich undenkbar, selbst wenn der Wind sich dreht.
Fußnoten:
[1] (Amursky et al. 2003, zit. n. William et al. 2012
[2] o. A., Encyclopaedia of hydrocarbons, Vol. III: NEW DEVELOPMENTS: ENERGY, TRANSPORT, SUSTAINABILITY, pp. 237-69. ENI 2005
[3] ibid., S. 238
[4] Wikipedia, The Berezovka controversy